Augmented und Virtual Reality – Neue Realitäten erfordern neue Problemlösungen

Veröffentlicht am 19. August 2022

Thiago Barros

Das mit allen Sinnen verbundene Eintauchen in andere, fremde Realitäten fasziniert die Menschheit seit geraumer Zeit, jedoch sorgten technische Limitationen oder horrende Finanzierungskosten im Laufe des 20. Jahrhunderts dafür, dass der Traum von neuen Realitätserfahrungen immer in den Kinderschuhen stecken blieb. Und das, obwohl bereits in den 60ern ein Automat von Morton Heilig entwickelt wurde, der einen 3D-Film aus der Ego-Perspektive zeigte und dank Stereosound, vibrierender Elemente sowie Fahrtwind erzeugender Ventilatoren ein allumfassendes Erlebnis bot.

Heutzutage haben die technischen Errungenschaften dazu geführt, dass Virtual-Reality-Brillen von einer Reihe von Firmen zu erschwinglichen Preisen angeboten werden und in immer mehr Wohnzimmern, aber auch Arbeitsplätzen Anwendung finden. Gemeinsam mit Peripherie-Geräten können so nicht nur in der Gaming-Welt ganz neue Formen der Immersion erfahren werden. Zudem verfügt jeder Smartphone-Nutzer über ein Augmented-Reality-Gerät, mit dem man z. B. Möbel in Originalgröße in seinem Zuhause platzieren oder teils aberwitzige Filter über sich selbst und die Umgebung legen kann.

Es ist also kein Wunder, dass viele Hersteller mit diesen neuen Realitäten experimentieren und leistungsfähigere Geräte herausbringen, die eine funktionale Nutzung erst ermöglichen. Gleichzeitig implementieren immer mehr Branchen und Bereiche AR- oder VR-Anwendungen, wenn es um Trainings, Produkt- und Serviceangebote oder das Simulieren von Arbeitsschritten und -systemen geht. Die wachsende Vielfalt an Anwendungsgebieten und Gerätschaften stellen Designer dabei vor ganz neue Herausforderungen in Sachen Bedienoberflächengestaltung und Benutzererfahrung, die neue Lösungsansätze verlangen.

 

Die Erschaffung neuer Welten vs. Realitätserweiterung

Auch wenn beide Realitätserfahrungen in erster Linie auf eine kontextbezogene Rückmeldung auf Benutzeraktionen und Interaktionen mit der Umgebung in Echtzeit setzen, so stellen Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) zwei unterschiedliche Ansätze dar, um den Nutzern neue Welten näherzubringen. In VR wird eine digitale, künstliche 3D-Welt von Grund auf erschaffen, in die der Nutzer zumeist mithilfe einer VR-Brille eintauchen kann. Die reelle Welt wird hierdurch komplett ausgeschlossen und durch eine virtuelle Umgebung ersetzt, die über physikalische Eigenschaften verfügt und vom Nutzer, zumindest vorübergehend, als eigene Wirklichkeit wahrgenommen wird.

Um dabei ein wahrhaft immersives Erlebnis zu schaffen, wird die in Echtzeit computergenerierte Umgebung auf einem hochauflösenden Stereodisplay dargestellt, welches einen Eindruck von Räumlichkeit und Tiefe vermittelt. Dank Head Tracking wird zudem die Bewegung des Kopfes bzw. die Blickrichtung erkannt, wodurch sich der Nutzer wie gewohnt und verzögerungsfrei umschauen kann. Zusätzliche Eingabegeräte wie Controller oder Datenhandschuhe ermöglichen das Interagieren mit Objekten und die Bewegung im Raum, wobei es hier auch schon omnidirektionale Laufbänder gibt, welche die menschliche Gehbewegung direkt in die virtuelle Welt übersetzen.

Im Gegensatz hierzu handelt es sich bei AR nicht um das Eintauchen in eine vollkommen neu erschaffene Welt, sondern um die Erweiterung der Realität durch virtuelle Aspekte, die dynamisch auf Veränderungen reagieren. Durch transparente AR-Brillen, die dafür sorgen, dass die reale Umgebung weiterhin wahrgenommen werden kann, oder schlicht durch die Kombination aus Smartphone-Kamera und -Display wird die Realität mit User Interfaces bzw. computergenerierten Informationen überlagert, wodurch eine Mischform aus Realität und Simulation entsteht.

Die Sicht des Nutzers auf die reale Welt wird sozusagen aufgenommen und mit Daten versehen, um die Sinneswahrnehmung zu erweitern. Die neu entstehende AR-Umgebung nutzt dabei Echtzeitangaben, die ein aktuelles Abbild der realen Welt erfassen, in welches direkt Informationen, Objekte und Interaktionsmöglichkeiten eingearbeitet werden können. AR koexistiert somit mit der realen Welt und ist gleichzeitig abhängig von ihr. Benutzeroberfläche und Feedback müssen ständig aktualisiert werden, damit sich die virtuellen Daten an die Veränderungen im Sichtfeld des Nutzers anpassen.

 

Design-Herausforderungen – Zwischen Interaktion, Wahrnehmung und Barrierefreiheit

Wenn es um die Design-Herausforderungen der neuen Realitäten geht, muss zunächst einmal die Frage nach der Nutzerinteraktion gestellt werden. Bei vielen VR- und nahezu allen AR-Anwendungen handelt es sich um steuerungslose Technologien, die automatisch und verzögerungsfrei auf die Blickrichtung des Nutzers und Veränderungen in der Umgebung reagieren müssen. Trotzdem muss es natürlich eine Schnittstelle geben, damit der Nutzer Befehle eingeben oder mit der Umgebung interagieren kann. Bislang werden dafür noch Controller bzw. das Smartphone benötigt, welche das freie Bewegen in der virtuellen oder erweiterten Realität jedoch einschränken.

Eine Lösung hierfür wären Conversational User Interfaces (CUI), die auf die Verwendung von Sprache bauen. Der Nutzer könnte so in den Dialog mit einem virtuellen Assistenten treten, wie wir es von Amazons Alexa oder Apples Siri kennen, und Befehle einfach aussprechen. Der Assistent muss hierbei aber natürlich die Intention und auch mögliche Akzente oder Sprachfehler verstehen können, um tatsächlich verzögerungsfrei zu reagieren und keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.

Gegenteilig hierzu stellt die nonverbale Kommunikation eine weitere Steuerungsoption dar. Eine intelligente Gestenerkennung könnte es dem Nutzer so erlauben, mit einfachen Handgesten Eingaben zu tätigen. Doch wodurch werden die Gesten überhaupt erfasst? Und was ist das Äquivalent einer Handbewegung zu einem Rechtsklick mit der Maus? Eine ausgefeilte Sensorik ist daher genauso zu berücksichtigen wie, dass erlernte Gesten von Kultur zu Kultur unterschiedlich und somit nicht universal anwendbar sind. Dies bedeutet, dass etablierte Patterns neu überdacht werden und Nutzer Befehlsgesten erst erlernen müssen.

Zudem muss man nicht nur die Bewegungen und Gesten des Nutzers messen und verfolgen können, sondern auch neue Wege finden, wie sich die Benutzeroberfläche im Sichtfeld optimal gestalten lässt. Virtuelle räumliche Interfaces haben schließlich keine physischen Grenzen und so können Menüs, Schaltflächen oder zusätzliche Displays im Prinzip überall innerhalb oder außerhalb des Sichtfelds erscheinen. Für User Experience Designer entstehen so ganz neue Herausforderungen, wenn es darum geht, die Nutzerführung und -wahrnehmung kontextuell so anzupassen, dass ein flüssiges Erlebnis entsteht.

Gleichzeitig muss sich die Technologie nahtlos in das Nutzererlebnis einfügen und darf den Nutzer in seinem Vorhaben nicht einschränken. Die grundlegende Ausrichtung im Sinne von UX und Behavioural Design muss deshalb auch hier erfolgen, indem nicht nur verständliche Pattern angewendet werden, um Stress und Zweifel zu vermeiden, sondern auch die Aufmerksamkeit des Nutzers subtil und ohne Reizüberflutung dorthin gelenkt wird, wo sie auch wirklich nützlich ist.

 

Die Realität von morgen 

Das Gleichgewicht zwischen Design und Barrierefreiheit in diesen Realitäten zu halten wird neue Lösungsansätze erfordern, die im bisherigen Nutzer- und Designer-Alltag nur bedingt Gewichtung finden. Gerade wenn es in diesem Zusammenhang um eine der weiterhin größten Hürden namens Motion Sickness geht, durch die sich aufgrund der verzerrten Realitäts- und Bewegungswahrnehmung bei manchen Menschen Gleichgewichtsstörungen oder Übelkeit einstellen, werden sowohl aus technologischer Sicht als auch aus Designsicht noch viele Fragen zu beantworten sein, um die neuen Realitäten wahrhaftig für jeden Nutzer erfahrbar zu machen.

Sowohl VR und AR werden sich derweil stetig weiterentwickeln und zeigen bereits auf, zu was aktuelle Technologien heute schon in der Lage sind. Dass sich beide Realitätserfahrungen dabei noch im Anfangsstadium befinden, ist für Designer derweil eine gute Nachricht, da die Zukunft noch nicht geschrieben ist und effektiv mitgestaltet werden kann. Es liegt also in den Händen der heutigen UX und Interface Designer, ob sich die Nutzeroberflächen von morgen eher nach den etablierten Graphical User Interfaces (GUI) richten oder vollkommen neue Wege bei der User Interface-Gestaltung gegangen werden. UX-Design wird daher unabhängig davon, ob sich ein standardisiertes oder mehrere verschiedene Interfaces durchsetzen, auch im Bereich der Realitätserfahrungen eine Kernkompetenz darstellen, damit die Benutzerinteraktionen in der virtuellen Welt oder der erweiterten Realität so natürlich und intuitiv wie irgend möglich vonstattengehen.

 

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Quellen:

https://uxplanet.org/ui-ux-designing-for-ar-vr-8c695caccc5e

https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/virtuelle-realitaet-54243

https://t3n.de/news/ux-augmented-reality-821809/

https://www.nngroup.com/articles/augmented-reality-ux/

https://www.justinmind.com/blog/6-ways-augmented-reality-is-changing-ux/

https://mixed.de/virtual-reality-geschichte/

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