Das MAYA-Prinzip – Wenn Neues zu fremdartig ist

Veröffentlicht am 21. April 2023

Marc Wagner

In seinem 1951 erschienenen Buch „Never Leave Well Enough Alone“ beschrieb der als Vater des Industriedesigns betitelte Designer Reymond Loewy, dass jegliches Produkt einer Abwägung zwischen Innovation und Nutzerakzeptanz bedarf, um am Markt erfolgreich zu sein. Ein Kompromiss zwischen Fortschritt und Bekanntem, Zukunft und Gegenwart, der einem Produkt genügend innovative Strahlkraft verleiht, ohne es dabei so andersartig zu gestalten, dass die Nutzer im Hinblick auf ihre Gewohnheiten und Lebensrealität nichts damit anzufangen wissen.

Loewys Ansätze unter dem Credo Most Advanced Yet Acceptable (sinngemäß: am fortschrittlichsten und doch noch annehmbar) wurden seitdem von verschiedensten Disziplinen aufgegriffen und sind allen voran in der Produktentwicklung und im Marketing unter dem Akronym MAYA nicht mehr wegzudenken. Doch während es in der Werbebranche zumeist um das Erregen von Aufmerksamkeit und das Schaffen von Kaufanreizen geht, indem sich Marketingexperten mit der Frage beschäftigen, wie weit darf Werbung gehen, um beim Konsumenten maximale Wirksamkeit zu entfalten, ohne ihn dabei zu verschrecken?, geht es für Designer bei der Produktentwicklung um das Beschreiten eines vertretbaren Mittelwegs, der sowohl durch Innovation als auch eine gewisse Vertrautheit besticht – oder auch die Frage, wie innovativ darf ein Produkt gestaltet sein, damit aus neuartig nicht ein zu fremdartig wird?

 

Balance in der Produktgestaltung – Gibt es ein zu innovativ?

Wenngleich zu Loewys Zeiten natürlich noch nicht absehbar war, inwieweit sich neue Technologien und allen voran die Digitalisierung auf die Designbranche auswirken würden, so gelten viele seiner Grundsätze auch heutzutage noch. Denn egal, ob es sich um Autos, Telefone oder Applikationen handelt, radikal neue Ansätze in der Produktgestaltung – ob klassisch analog oder digital – werden heute wie gestern von Nutzern oft abgelehnt, da sie sich in Design und Handhabung zu stark von Gewohntem unterscheiden. Die reine Optik oder der Ersteindruck eines Produktes sind deshalb häufig bereits der erste Schlüssel zum Erfolg – oder eben Misserfolg.

Eine erfolgreiche Anwendung des MAYA-Prinzips zeigt sich so z. B. bei Apple und der Ersteinführung des iPads. Die darauf nutzbare und beworbene Notiz-App wurde derart gestaltet, dass sie optisch einem traditionellen Notizbuch nahekam, wodurch sich den Nutzern direkt ein vertrautes Erscheinungsbild bot, das schnell zu erfassen war. Dies ist auch mit ein Grund dafür, dass sich heutzutage eine Vielzahl von Web-Anwendungen oder Apps nur noch bedingt in ihrer Benutzeroberfläche unterscheiden. Eine gewohnte Erscheinung, wie beispielsweise das als „Speichern“-Symbol eingesetzte Piktogramm der 3,5 Zoll Floppy-Disc, das selbst Personen zuordnen können, die nie eine Diskette gesehen haben, hilft den Nutzern schlicht dabei, sich besser zurechtzufinden und erleichtert die Nutzung. Hierbei noch den Spielraum für Innovation auszuloten, ist die hohe Kunst des Designens, um trotz des notwendigen Zurückgreifens auf etablierte Konzepte neue Wege zu beschreiten, die Nutzer begeistern und sich von der Konkurrenz abheben.

Dass diese Gratwanderung nicht immer gelingt und wie wichtig ein „akzeptables“ Erscheinungsbild ist, zeigte Fiat 1999 mit der Vorstellung des Multipla. Der neue Familien-Van bestach durch ein cleveres Raumkonzept, welches das einfache Verschieben oder Ausbauen der sechs Einzelsitze aufgeteilt auf zwei Reihen erlaubte. Eine praktische Funktion, welche die damaligen Nutzer hätte überzeugen können, wäre da nicht das äußere Design gewesen, das dem Multipla noch heute einen unangefochtenen Platz 1 im ADAC-Ranking der hässlichsten Autos der Welt einbringt. Auch wenn sich die Ingenieure also an das Form Follows Function sowie weitestgehend an das MAYA-Prinzip gehalten hatten, indem Innovation in einem gewissen Rahmen betrieben wurde, wurde der Multipla Opfer seiner eigenen Andersartigkeit. Das Design wirkte für die meisten Menschen einfach zu ungewohnt, um annehmbar zu sein.

A lot of people are open to new things, as long as they look like the old ones. Raymond Loewy

Das Beispiel des Multiplas zeigt, dass zu starke Abweichungen von vertrauten Designkonventionen das Potenzial haben, ein Produkt weniger attraktiv zu machen. Es kann also ein zu innovativ in der Produktgestaltung geben. Zumindest dann, wenn man die breite Masse in einem etablierten Sektor ansprechen will. Das MAYA-Prinzip verlangt nach fortschrittlichen Produkten, die aber gleichzeitig für diese breite Masse bzw. den Durchschnittskonsumenten akzeptabel sind. Im Idealfall hilft es, Produkte zu entwickeln, die das Interesse der Verbraucher wecken, ohne zu revolutionär oder unzugänglich zu sein, und das Risiko von Fehlinvestitionen zu minimieren sowie die Akzeptanz von neuen Produkten zu maximieren. Der Multipla scheiterte an eben jener Akzeptanz, da die Optik nicht als fortschrittlich, sondern als unvertraut gewertet wurde.

 

Alles MAYA oder was? – Kein Prinzip, das für sich alleine steht

Das MAYA-Prinzip hat zweifellos seine Vorteile, insbesondere wenn es darum geht, ein Produkt auf den Markt zu bringen, dass die Bedürfnisse der Kunden erfüllt. Es fördert die Idee, dass Design längerfristig und auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sein sollte, anstatt nur auf kurzfristige Trends und Modeerscheinungen zu setzen. Darüber hinaus kann eine ausgewogene Mischung aus Vertrautheit und Neuheit das Vertrauen der Verbraucher in das Produkt stärken und dazu beitragen, dass es sich erfolgreich am Markt etabliert. Es kann aber auch dazu führen, dass sich zu sehr auf den Durchschnittsverbraucher konzentriert wird und somit die Bedürfnisse von Nischenmärkten vernachlässigt werden. Gleichzeitig werden Wahrnehmung, Geschmack und Vorlieben der Verbraucher oft von kulturellen und sozialen Faktoren beeinflusst, wodurch Designer, die sich auf das MAYA-Prinzip berufen, teilweise Trends und Stereotypen eher verstärken, anstatt sie zu durchbrechen oder zu hinterfragen.

Kritiker monieren zudem, dass das MAYA-Prinzip zu konservativ daherkommt und Innovationen behindert, indem es Designer dazu ermutigt, sich primär auf das zu konzentrieren, was bereits als bekannt und akzeptiert gilt. Die Vertrautheit, die durch das Prinzip betont wird, und das Berufen auf Entwürfe, die in der Vergangenheit erfolgreich waren, führe eher zu einem Mangel an Vielfalt und Originalität, wodurch Produkte vielmehr einem Einheitsbrei gleichen, der keine Differenzierung im Wettbewerb zulässt und Design hinter andere Faktoren wie Preis und Marketing zurückfallen lässt.

MAYA kann bei nüchterner Betrachtung deshalb nicht im luftleeren Raum bestehen, sondern sollte nur im Zusammenspiel mit weiteren Design-Prinzipien eingesetzt werden, die ebenfalls darauf abzielen, benutzerfreundliche und attraktive Produkte zu gestalten. Während sich das MAYA-Prinzip auf ein Gleichgewicht zwischen Vertrautheit und Neuheit fokussiert, fordert die vom US-amerikanischen Flugzeugkonstrukteur Kelly Johnson ins Leben gerufene Designphilosophie KISS (Keep it Simple, Stupid) die Gestaltung so einfach wie nur irgend möglich zu halten, um sicherzustellen, dass ein Produkt verständlich und leicht zu bedienen ist. Das von dem Architekten Louis Henry Sullivan geprägte Designkonzept Form Follows Function (die Form folgt der Funktion) sagt wiederum aus, dass das Design eines Produkts von seiner Funktion bestimmt werden soll. Die Form eines Produkts muss also so gestaltet sein, dass sie die Funktion bestmöglich unterstützt.

MAYA, KISS und Form Follows Function schließen sich somit nicht aus, sondern können als miteinander verwandte Designprinzipien betrachtet werden, die sich im Optimalfall ergänzen und zusammenarbeiten, um ein analoges oder digitales Produkt zu optimieren. In Kombination tragen sie dazu bei, Produkte benutzerfreundlicher, attraktiver und funktionaler zu gestalten, da sie dem Zusammenspiel von Einfachheit, Funktionalität, Vertrautheit und Innovation bei der Produktgestaltung gleichermaßen Bedeutung schenken. Gemeinsam können sie daher auch dabei mithelfen, dass ein Produkt wahrhaftig in der Lage ist, sich den Bedürfnissen und Wünschen der Verbraucher anzupassen, und liefern dadurch gleichsam einen wichtigen Beitrag zur aktuellen und zukünftigen Kundenzufriedenheit.

 

KISSing MAYA – Eine gelungene Kombination

Wie die gelungene Anwendung des MAYA- und des KISS-Prinzips in Kombination funktionieren kann, zeigte 2015 ebenfalls Apple mit dem Markteintritt der Apple Watch. Um sich etwas unabhängiger von den Absatzzahlen des iPhones zu machen, sollte die Apple Watch ein neues Zugpferd werden – auf einem Markt der Wearables und Smartwatches, der von vielen damaligen Experten bereits für tot erklärt wurde. Das Design, bei dem offensichtlich das MAYA-Prinzip angewendet wurde, war eher schlicht, vertraut und zugänglich gehalten, während gleichzeitig neue, innovative Funktionen und Technologien integriert wurden. So beinhaltet die Smartwatch zahlreiche Funktionen, die auf den ersten Blick überwältigend wirken können, aber durch intuitives Design leicht nutzbar und verständlich sind.

Die Anwendung des KISS-Prinzips lässt sich am minimalistisch gehaltenen Design der Uhr, die schlank und unaufdringlich daherkommt, sowie der ebenso einfach gehaltenen und leicht zu durchdringenden Benutzeroberfläche erkennen. In Kombination führten so die intuitive Benutzeroberfläche und die funktionale Form bei der Markteinführung zu einer breiten Akzeptanz unter den Verbrauchern und machten die Apple Watch zu einem Erfolgsbeispiel dafür, wie ein Gleichgewicht zwischen Vertrautheit und Neuheit, Funktionalität und Einfachheit in einem Design entstehen kann, um ein Produkt zu erschaffen, das sowohl attraktiv als auch benutzerfreundlich ist.

Die Philosophie hinter MAYA ist ein wichtiges Design-Prinzip und nützliches Konzept für Designer, um Produkte zu entwickeln, die sowohl fortschrittlich als auch akzeptabel für die Nutzer sind und somit erfolgreich am Markt platziert werden können. Es darf aber nicht als starres Regelwerk betrachtet werden, welchem unter allen Umständen gefolgt werden muss, und Designer sollten sich auch nicht nur darauf beschränken, das zu entwerfen, was bereits als akzeptiert gilt. Denn, unabhängig von den angewandten Prinzipien, geht es für Designer immer um das Bestreben Innovation und Originalität zu fördern und gleichzeitig die Bedürfnisse und Vorlieben der Nutzer zu berücksichtigen. Nur dann können analoge und digitale Produkte das Licht der Welt erblicken, die sowohl mit ihrer Ästhetik als auch mit ihrer Funktionalität bestechen und sich schnell zu einem mehrwertigen Alltagsbegleiter für verschiedenste Nutzer entwickeln.

 

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Quellen:

medium.com/@natsuokin

europe.autonews.com

marktforschung.de

uxbooth.com

interaction-design.org

interaction-design.org

usability.gov

netzwoche.ch

 

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